Einen Gruß an die Berliner, die sich von mir so gern verzaubern
ließen.
Ich freue mich, daß der Rückblick auf mein Artistenleben
zuerst in der “Berliner Morgenpost” erscheint.
Marvelli
I
Es wird dunkel in dem kleinen Konzertsaal. Und plötzlich flammt
dort vorn auf der Bühne ein weißer Blitz auf – in dem grellen
Schein erkennt man sekundenkurz einen Herrn im Frack, die schlanken Hände
leicht erhoben, in der eleganten Haltung, wie er auf Tausenden von Plakaten
in ganz Europa zu sehen ist. Schon ist der Blitz wieder erloschen. Aber
dann wird es auf einmal strahlend hell im Saal und auf der Bühne.
Wieder ein verblüffender Eindruck: keine Requisiten! Nur ein kleines
Tischchen steht nah an der Rampe. Der Herr im Frack aber hat jetzt vier
weiße Bälle in der rechten Hand, läßt sie lächelnd
in die Luft verschwinden, zaubert sie mit Leichtigkeit wieder hervor und
spricht dabei sein Publikum an:
“Meine Damen und Herren, natürlich kann man gar nicht zaubern!
Man kann nur täuschen. So vieles im Leben ist Täuschung – Was
ich Ihnen zeigen möchte, das ist Täuschungskunst. Wenn Sie genau
aufpassen, müssen Sie mich erwischen, denn das alles ist natürlich
ganz einfach!”
Weiß der Himmel, was die Damen in ihren Abendkleidern und die
Herren im Frack und Smoking von diesem Abend erwartet haben! Sie wissen
– vor ihnen steht Europas berühmtester Zauberer, der auf zwei Weltkongressen
der Zauberer den Magischen Ring gewonnen hat – ein Artist erster Klasse.
Aber ist das überhaupt Zauberei? Er trägt keinen weiten chinesischen
Rock, in dem sich so viel verstecken läßt, es fehlen, die vielen
Schränke, Truhen, Tische, Vorhänge und Koffer der Magier alten
Stils, und ebenso wenig ist ein Assistent auf der Bühne zu erblicken.
Will Marvelli allein da vorn zwei Stunden lang dem Publikum etwas vorzaubern?
Genau das will er. Und er wird aus einem blasierten und etwas mißtrauischen
Publikum mit seinem Geplauder, der immerfort begleitenden leisen Musik
und seinen alles Denkbare und Glaubwürdige übersteigenden Tricks
schon nach den ersten 20 Minuten eine Art Kindergeburtstagsgesellschaft
machen. Ältere Herren mit grauen Schläfen werden sich danach
drängen, auf die Bühne zu kommen, um selbst zaubern zu, dürfen.
Würdige Damen mit schulterfreiem Kleid werden jubeln wie Zehnjährige
im Kindergarten. Aber immer wieder wird die Zuschauer zwischendurch ein
unerklärliches, unheimliches Gefühl beschleichen: wie ist das
alles möglich – wie kann so etwas überhaupt geschehen!
Es ist ein Programm, so künstlerisch aufgebaut und ausgewogen,
wie es kein zweiter Zauberer auf der Erde zeigt. Er narrt, foppt und lockt
das Publikum. Er hat ein grünes Seidentuch aus der Luft gegriffen,
verschwinden lassen und nimmt es lächelnd einer Dame in der ersten
Parkettreihe aus dem Theatertäschchen: “Aber meine Damen und Herren,
das war doch so einfach, das mußten Sie doch merken. Passen Sie auf,
ich mache es Ihnen noch einmal ganz langsam vor. Hier ist das grüne
Tuch! Wo ist es jetzt?”
Ein einziger Aufschrei des Publikums: “Dort, unter Ihrer Frackweste!”
Marvelli sieht betroffen an einer Weste hinunter und entdeckt tatsächlich
einen grünen Zipfel. Er zieht ihn mit spitzen Fingern hervor – und
siehe da, es ist ein winziges Stück Seide, so groß wie ein Daumennagel.
Gelächter braust durch den Saal – und im gleichen Augenblick bittet
er einen Herrn, der nicht weit von ihm sitzt, und zu dem er jetzt hinübergeht,
doch seine Brieftasche zu öffnen.
Es gibt keine Zauberei – aber just in dieser Brieftasche ist das grüne
Tuch, das er soeben verschwinden ließ! Er “bezaubert” sein Publikum.
Eine sehr süße, zärtliche und wiegende Musik ertönt.
Aus der Luft greift sich Marvelli ein Kartenspiel, streicht leicht mit
der Hand darüber hin, und schon ist ein wundervoller, riesiger Fächer
entstanden. Ein zweites Spiel taucht auf, und die Karten werden hauchleicht
über den Fächer des ersten Spiels gestrichen – da steht ein Doppelfächer
in seiner Hand. Im nächsten Augenblick, mit einer Schnelligkeit, die
an das Wunder grenzt, entfaltetet es sich auf seinem ausgestreckten linken
Arm von den Fingerspitzen bis zur Schulter. Und wieder ist das alles blitzschnell
verschwunden, und er zeigt sein nächstes Kartenkunststück, er,
der größte Kartenkünstler Europas.
Gut – das ist Leichtigkeit, Schwerelosigkeit, Charme und Grazie! Aber
dann kommen Augenblicke, wo aus dem Hintergrund eine dunkle und geheimnisvolle
Musik dröhnt. – Und dann geschehen Dinge, die durch die tollste Fingerfertigkeit
nicht mehr zu erklären sind. Er hält den großen Stab in
den Händen – er nimmt die linke Hand, zurück, und der Stab schwebt
frei an seiner geöffneten rechten Hand ... Er nimmt auch die rechte
Hand zurück, und der Stab schwebt frei in der Luft. Er gehorcht dann
langsamen Bewegungen des Magiers, der ihn im freien Raum lenkt, wie er
es wünscht.
Was danach noch geschieht, ist nun beinahe gleichgültig. Das Publikum
steht im Zauberbann dieses einzigartigen Magiers und Eulenspiegels. Das
ist der große Marvelli in seiner Vollendung, wie ihn Millionen von
Zuschauern in Berlin wie in Stockholm, in Wien wie in Paris und, Rom oder
in Rio und Buenos Aires gesehen haben.
Es ist der Mann, der vor knapp zwei Jahren den Zauberstab für
immer aus der Hand gelegt hat und von der Buhne abgetreten ist; er verschwand
genau so überraschend, wie er einst gekommen war, um alle anderen
Zauberer zu besiegen.
Wo kam er her? Marvelli – ist das ein Italiener oder ein Spanier?
Es ist ein Deutscher aus Schlesien, geboren in einem kleinen Forsthaus
und von seinem Vater zum Studium der Theologie bestimmt. Einer, der als
junger Mensch vom Zauber der Magie erfaßt wurde und nicht mehr davon
loskam! Einer, der das Elternhaus verließ, um in die Ferne und damit
in die bitterste Armut der fahrenden Leute zu gehen, der sich Schritt für
Schritt seinen Aufstieg erkämpfen mußte, selbst genarrt und
gefoppt vom Schicksal – aber der zäh durchhielt, bis sein strahlendes
Talent durchbrach und ihn kometengleich empor führte. Marvellis Aufstieg
ist die Geschichte eines der letzten ganz großen Artisten Europas.
II
Wie eigentlich wird man ein Zauberer? Der junge Marvelli fuhr damals
täglich vorn Elternhaus nach der kleinen Stadt Oels, um beim einem
Dentisten zu arbeiten. Nachdem der Junge weder auf dem Konvikt in Breslau
noch auf dem Gymnasium in Oels recht vorangekommen war, ließ ihn
der Vater, zwar schweren Herzens, aber doch kurz entschlossen, einen Brotberuf
lernen.
So viele Male war der Achtzehnjährige schon an der Bahnhofsbuchhandlung
in Oels vorbeigekommen – aber dann, an einem Herbsttag, blieb er wie fasziniert
vor dem Schaufenster stehen. Ein Buchumschlag in leuchtendem Rot und Schwarz
war ihm aufgefallen; dort war ein Herr im Frack abgebildet, der mit bezwingend
eleganter Geste ein fächerförmig auseinandergezogenes Kartenspiel
in der Hand hielt. “Der moderne Kartenkünstler” hieß das Buch
– und wie unter einem Zwang kaufte es der junge Marvelli und fing noch
in der gleichen Nacht zu lesen und – zu üben an. Selbst die geliebte
Geige mußte in den nächsten Monaten hinter der Leidenschaft
für das Zaubern zurückstehen. Aber so einfach der Anfang war,
so schwer war der Fortschritt – wie jeder Amateurzauberer weiß. Das
Wesen des Kartenzauberns ist mühelose Eleganz – und gerade die ist
nur durch unablässige Übung zu erreichen. Der junge Marvelli
war wie besessen von seinem neuen Steckenpferd; nach und nach schaffte
er sich auch Zaubergeräte an. Er übte nicht nur des Nachts in
seinem Zimmer, am Tisch und vor dem Spiegel, er übte auch im Wartezimmer
des Dentisten, wenn gerade keine Patienten da waren. Selbstverständlich
wurde er dabei erwischt und mußte seinem Lehrherrn sowie den Patienten
einige Kunststücke vorführen. Sie gelangen dem jungen Amateurzauberer
über alle Erwarten gut. Tief im Winter kam ganz unverhofft eine Chance,
sich zum erstenmal vor einem größeren Publikum zu produzieren.
Ein dicker Zigarrenhändler, der dafür bekannt war, daß
er in sämtlichen Festkomitees saß, machte ihm den Vorschlag,
doch auf dem großen Heimatabend in den Stadtsälen aufzutreten.
Zugunsten der Oberschlesienhilfe veranstaltete Oels damals einen “Bunten
Abend” – mit Vortragskünstler, Männerchören, Tanzeinlagen
– und er sollte als der “jüngste Zauberer von Oels” glanzvoll angekündigt
werden.
Diesem Vorschlag konnte Marvelli nicht widerstehen. Die gute Mutter
mußte mit einigem Geld aushelfen – und der Zauberlehrling fuhr nach
Breslau, um sich dort in einem Verleih in den ersten Frack seines Lebens
zu zwängen. Auch das Frackhemd war nicht billig, und in seiner Ahnungslosigkeit
erstand er eine schwarze Schleife statt einer weißen! Aber was wollte
das alles noch besagen, als nun der große Abend herangekommen war!
Von 6 Uhr nach- mittags an wartete er aufgeregt hinter der Bühne,
obwohl sein Auftritt erst gegen 10 Uhr stattfinden sollte. In
Gedanken ging er seine Tricks noch einmal durch und wurde immer nervöser.
Als der jüngste Zauberer von Oels endlich die kleine Bühne betrat
und zum erstenmal im Rampenlicht und vor einem großen Publikum stand
– da hatte ihn bereits das Lampenfieber mit aller Gewalt gepackt. Seine
Hände zitterten, und er brachte kaum einen Satz zustande.
Es war ein Auftritt, an den sich das Publikum dieses Abends noch lange
und gerne erinnern sollte, Marvelli war noch keine fünf Minuten auf
der Bühne, als sich die Leute bereits vor Lachen bogen und nach Luft
schnappten. Viele glaubten sogar, des Ganze sei als komische Nummer gedacht.
Zuerst entglitt das Kartenspiel seiner Hand, als er es gewandt im Frackschoß
verschwinden lassen wollte, dann wollten die farbigen Tücher ihm durchaus
nicht den Gefallen tun, in dem (hohlen) Zauberstab zu verschwinden, sondern
verklemmten sich derart, daß Marvelli den Stab ratlos hinter die
Bühne warf. Und als er nun die berühmten Bälle zwischen
den Fingern hielt und sie “eskamotieren”, also wie durch Zauber verschwinden
lassen wollte, da rutschten sie ihm heimtückisch aus der Hand und
rollten in die Rampenbeleuchtung.
Verzweifelt eilte er hinterher ... Aber dann auf einmal begriff er,
daß er hier, gleich am Anfang seiner Laufbahn, den größten
Durchfall erlebte, der überhaupt denkbar war. Während das Publikum
noch schadenfroh lachend applaudierte, verschwand er tiefbeschämt
hinter den Kulissen.
Ein anderer hätte vielleicht das Zaubern jetzt völlig aufgegeben!
Aber trotz all der Anspielungen und Neckereien, die der junge Marvelli
von nun an im Vorzimmer des Dentisten zu erdulden hatte, blieb er seinem
Steckenpferd treu. Nachts, wenn alles ringsum still war und er in seinem
kleinen Zimmer wieder vor dem Spiegel übte, dann fühlte er trotz
allem ganz stark die Begabung in sich, all diese Tricks einmal so glanzvoll
und elegant auszuführen, daß ein verblüfftes und begeistertes
Publikum ihm zujubeln mußte. Ja, er wollte Erfolg haben, wollte einmal
die Menschen zu Staunen und Bewunderung hinreißen! Und so faßte
er denn ganz plötzlich einen folgenschweren Entschluß.
Seit einiger Zeit las er das Fachblatt der Internationalen Artistenloge.
In der Märznummer des Jahres 1923 fand er darin eine kleine Anzeige:
Das Zirkusunternehmen Welt-Arena in Brandenburg, Direktor Leopold Richter,
suchte einen jungen Artisten, der Geige spielen, etwas jonglieren und zaubern
konnte. Wie unter einem inneren Zwang schickte Marvelli noch am gleichen
Tage ein Bewerbungsschreiben ab.
III
Für den ehemaligen Zögling des Fürstbischöflichen
Konvikts zu Breslau war es eine harte Schule, mit den fahrenden Leuten
auf die märkischen Dörfer hinauszuziehen! Natürlich war
er der junge Mann für alles! Seine eigene Solonummer bestand nur aus
zwei Violinstücken, die er den Bauern vorgeigen mußte, und gelegentlich
durfte er auch schon etwas zaubern. Vor allem aber hatte er das Orchester
darzustellen! Wenn unter der Obhut von Frau Richter und ihrer blonden Tochter
Lotte ein Esel, ein Rind, zwei Affen und ein dressierter Hahn auftraten,
machte er die Musik: mit der linken Hand drehte er die Kurbel eines Leierkastens,
mit der rechten schlug er den Rhythmus auf der Pauke und bediente mit dem
Fuß die Becken. Auf dem Höhepunkt des Programms, wenn der alte
Richter, der als Artist auf dem Mast arbeitete, seine Darbietung unterbrach,
um eine Ansprache an das Publikum zu halten, mußte er mit dem Teller
das Geld einsammeln gehen – ganz so, wie es bei den fahrenden Leuten seit
Tausenden von Jahren üblich ist. Vor dem Absammeln aber hatte sich
Marvelli jedes Mal im Wohnwagen bei Frau Direktor einzufinden. Gegen die
Gefahr nämlich, daß der Absammler für sich selbst etwas
vom Teller nimmt und verschwinden läßt, hatten die Zigeuner
schon in grauer Vorzeit eine ausgezeichnete Vorbeugungsmaßnahme erfunden,
an die sich auch Frau Richter hielt. Sie griff in ein Glas und drückte
dem jungen Mann fünf lebende Fliegen in die linke Hand. Die mußte
er dann zugleich mit dem gefüllten Teller unversehrt wieder abliefern!
Bald hatte sich der junge Zauberkünstler an das Milieu der fahrenden
Leute gewöhnt, und der gemütliche Wohnwagen wurde ihm zur zweiten
Heimat. Eines Nachmittags, als man wieder einmal beim dampfenden Kaffee
um den sauber gedeckten Tisch im Wohnwagen saß, der erste Herbstregen
draußen an die Scheiben trommelte und Richters vom einstigen Glanz
der “Welt-Arena” erzählten, wurde auch ganz plötzlich sein Artistenname
geboren:
“Junge, du mußt endlich einen richtigen Namen haben, wenn du
etwas werden willst”, meinte der alte Richter, “wie wär’s mit ...
Marvelli?” Niemand im Wohnwagen ahnte damals, daß das jüngste
Mitglied des Unternehmens unter diesem Namen weltberühmt werden sollte.
Von April bis September 1923 war Marvelli mit der Welt-Arena in der Mark
Brandenburg herumgezogen; jetzt hieß es, sich von den Richters trennen,
da der kleine Zirkus im Winter nicht arbeiten konnte. Es galt nun, so schnell
wie möglich nach hause zu kommen, schnell, denn der schlimmste Hexentanz
der Inflation war ausgebrochen. Von Tag zu Tag und bald von Stunde zu Stunde
verlor das Geld seinen Wert. Mit den 180 Millionen Mark Gage, die Marvelli
stolz in der Brieftasche trug, kam er gerade noch mit der Eisenbahn bis
Halle. Der Zug nach Leipzig war bereits überfüllt; Marvelli schaffte
es aber doch, sich in einen der geräumigen Wagen vierter Klasse mit
hineinzuschmuggeln. Während der Fahrt begann er, vor dem recht gemischten
Publikum die Zauberrequisiten aus dem Koffer zu holen und eine kleine Vorstellung
zu geben – auf diese Weise bekam er wenigstens das Geld für die Weiterfahrt
zusammen!
Da kam nun der ungeratene Sohn von seinem Ausflug in das Artistenleben
in das stille Forsthaus seiner Eltern zurück. Was soll nun werden?
Diese stumme Frage konnte der Sohn täglich von den Gesichtern seiner
Eltern ablesen. Eines war aber ihm klar: niemals würde er zu einem
bürgerlichen Beruf zurückkehren. Aber das harte Leben bei der
Welt-Arena hatte ihn denn doch so weit ernüchtert, daß bei aller
Freude am Zaubern, sein alter Lieblingswunsch wieder stark in den Vordergrund
trat: ein Geigenvirtuose zu werden, der alle Welt zum Beifall hinreißt.
Bis in die Nacht hinein übte er jetzt auf der Geige: das Paganinikonzert,
Sarasates Zigeunerweisen und ähnliche, besonders schwere Virtuosenstücke.
Im Frühjahr 1924 gastierte im Breslauer Konzerthaus einer der
größten Geigenvirtuosen jener Zeit: Vasa Prihoda. Auf seinem
Programm standen genau die Stücke, mit denen Marvelli die Welt erobern
wollte, Selbstverständlich fuhr er nach Breslau, um den großen
Geiger zu hören und bekam mit Mühe noch ein Billett für
das Konzert. Schon das erste Auftreten des Geigers nahm ihn gefangen: so
elegant, so strahlend, so selbstsicher wollte er auch einmal vor dem Publikum
stehen. Und Prihodas Spiel war ein begeisterndes, hinreißendes, unvergleichliches
musikalisches Erlebnis. Noch Stunden nach dem Konzert irrte Marvelli, die
Hände in den Manteltaschen, durch die Straßen Breslaus. Er war
zutiefst aufgewühlt. Doch er war nicht mehr beglückt, er war
verzweifelt! Er wußte auf einmal genau, daß er niemals diese
künstlerische Vollendung auf der Geige erreichen würde. Der Traum
vom Violinvirtuosen war ausgeträumt. Und was sollte nun geschehen?
In dieser Nacht entschied sich Marvelli ganz und gar für seine eigentliche
Begabung: die Zauberei! Auf diesem Gebiet würde er arbeiten, hart
und unerbittlich so lange, bis er die Menschen, ähnlich wie Prihoda
auf der Geige, durch seine Zauberkunststücke verblüffen, hinreißen,
begeistern konnte. Am nächsten Tag mietete er sich ein kleines, billiges
Zimmer in Breslau und bat seine Eltern brieflich, ihm seine Sachen zu schicken.
Er wollte nicht mehr zurück ins Vaterhaus; hier in Breslau sollte
jetzt sein Weg beginnen! Die reiche schlesische Hauptstadt war seit langem
ein Dorado für Künstler aller Art. Die Artisten traten meist
im Liebich-Theater auf, und wer hier Erfolg hatte, dem war ein Engagement
nach Berlin gewiß. Aber es gab auch mehrere kleinere Varietés;
bei ihnen suchte Marvelli zunächst anzukommen, Doch er merkte sehr
bald, daß man von einem Varietézauberer etwas ganz anderes
verlangte als das, was er zu bieten hatte.
IV
Im Herbst 1925 tritt in Breslau ein Zauberkünstler auf, über
den die Zeitungen spaltenlang berichten, der wochenlang die große
Sensation bedeutet: Carmelini! Der gebürtige Ungar hat einen Namen
von Weltruf, hat in allen Hauptstädten Europas Triumphe gefeiert und
gilt als einer der elegantesten Täuschungskünstler überhaupt.
Das Liebich-Theater ist Abend für Abend ausverkauft. Und nicht nur
das große Publikum drängt sich, Carmelini zu sehen, sondern
vor allem die große Zahl der Amateurzauberer, darunter berühmte
Rechtsanwälte, Ärzte, Hochschullehrer und Bühnenkünstler!
Für den jungen, hohlwangigen Menschen, der sich vielleicht am glühendsten
danach sehnt, den großen, berühmten Kollegen “zaubern” zu sehen,
gibt es zu dieser Zeit nicht einmal die Möglichkeit, auch nur eine
billige Eintrittskarte zu kaufen, Er hat kein Engagement, er lebt – ein
uralter Begriff für stellungslose Artisten – vom “Ständeln”.
Der Ständler sucht sich, gleich den Taschenspielern des Mittelalters,
sein Publikum selbst. Nach Feierabend besucht er die kleinen Bierkneipen,
behagliche bürgerliche Lokale, in denen es formlos und gemütlich
zugeht, stellt sich an einen der kleinen runden Tische oder an die Theke
und läßt plötzlich die berühmten vier Bälle erscheinen,
einen Kartenfächer aufrauschen oder zaubert ein endloses seidenes
Band aus der Weste des neben ihm stehenden Herrn. Für den Ständler
kommt alles darauf an, daß er im ersten Augenblick siegt – das heißt,
sein Publikum verblüfft und hinreißt, damit es noch mehr sehen
will. Gelingt ihm das, kann er sicher sein, daß man ihn einlädt
und daß man ihm, wenn er charmant und humorvoll zu fordern versteht,
auch etwas auf den hingehaltenen Teller legt. Hier kann er, direkt unter
den scharf beobachtenden Augen seiner Zuschauer, ausprobieren, ob er seinen
Trick wirklich so durchgefeilt hat, ob er so verblüffend fingergewandt
ist, daß keiner den Trick durchschaut, daß es wirklich wie
“Zauberei” wirkt! Regnerische Abende – sie sind besonders schlimm für
den Ständler. Dann bleiben die meisten lieber gemütlich zu Haus.
Die Gasthäuser und Kneipen sind leer, und der Wirt winkt schon ab,
wenn Marvelli nur zur Tür hineinkommt. Durchfroren und durchnäßt
ist Marvelli gegen elf Uhr nachts schon auf dem Heimweg, als er noch einmal
in die alte Weinhandlung Schwarz in der kleinen Groschengasse hineinsieht.
Auch hier das gleiche Bild: das Lokal ist leer. Er will schon wieder gehen,
aber da winkt ihn der Wirt herbei. In dem kleinen Hinterzimmer sitzt ein
älteres Ehepaar auf dem altmodischen Sofa; der Mann trägt einen
schwarzen Spitzbart und blickt ihm mit großen, grauen, seltsam spähenden
Augen entgegen.
“Nun zeigen Sie mal, was Sie können, Herr Marvelli”, sagt der
Wirt und schlägt ihm gutmütig auf die Schulter, “zaubern Sie
dem Herrn einmal etwas vor. Es ist Signor Carmelini! Ich hab ihm schon
von Ihnen erzählt.”
Marvelli ist im ersten Augenblick bis zur Fassungslosigkeit verblüfft.
Aber dann fängt er sich schnell. Er zaubert dem großen Carmelini
einen Zigarettentrick vor, der zu den schwierigsten seiner Art gehört,
den er seit Monaten geübt hat – und der ihm jetzt, hier in dieser
kleinen Stube, so elegant glückt wie noch niemals..
Carmelini hebt ein wenig den Kopf: “Gut – sähr gut”, sagt er in
seinem fremdartigen Deutsch. Er greift schnell in die Westentasche und
wirft Marvelli ein Fünfmarkstück zu: “Und was werden Sie damit
anfangen, junger Mann?”
V
Die Herrschaften hatten nicht viel mehr als eine nette kleine Abwechslung
in der Langeweile des Kuralltags erwartet. Doch es wurde ein Sensationserfolg!
Damen und Herren drängten sich um den jungen Zauberer, der sie aufgefordert
hatte, ihn recht genau bei seinen Tricks zu beobachten. Sie flehten ihn
förmlich an, doch noch einmal den Trick mit den drei Ringen zu wiederholen
oder den mit den grünen, verknoteten Tüchern, deren Knoten in
der zusammengepreßten Hand der Versuchsperson auf eine rätselhafte
Art zerschmolzen! Es gab entzücktes Gelächter bei der gefälligen
Konversation, die Marvelli da unablässig während des Zauberns
trieb, so, als habe er sich nie auf einem anderen Parkett bewegt!
Ganz Garmisch sprach nach dieser Vorstellung von dem neuen Mann.
Die Telefone auf den Schreibtischen der Hoteldirektoren klingelten
noch spät in der Nacht: einer erzählte dem anderen von dem unerwartet
großen Erfolg eines Zauberers namens Marvelli, für den das Hotel
“Zur Post” auf den dringenden Wunsch seiner Gäste bereits zwei neue
Zauberabende angesetzt hatte. Dringende Anfragen kamen in den nächsten
Tagen nacheinander von Wiessee, von Oberstdorf, von Reichenhall und Berchtesgaden,
Schliersee, Bad Tölz und ganz unerwartet Bad Kissingen meldeten sich,
garantierten freie Fahrt, Unterkunft und ein recht annehmbares Honorar.
Ein junger Artist, der vor noch knapp einem dreiviertel Jahr oft nicht
wußte, wie er sich des Abendbrot erzaubern sollte, muß sich
jetzt einen Terminkalender aufstellen. Marvelli behält in all diesem
Trubel einen klaren Kopf. Er weiß – Je anspruchsvoller sein Publikum
wird, desto mehr muß er bieten. Die “Schwebende Kugel”, ein Trick,
an dem er schon lange arbeitet – jetzt endlich gelingt er ihm nach zahllosen
Übungsstunden. In Kissingen kann er, kaum einen Monat später,
gleich zwei neue Tricks vorführen, darunter schon den Zigarettenfang,
der, bis zur Vollendung ausgebaut, ihm später einmal den Magischen
Ring auf dem Weltkongreß der Zauberer einbringen wird. Aber Beifall,
Geld und Lob der Presse genügen ihm noch nicht. Nach acht Monaten
rauschender Erfolge zieht er sich plötzlich zurück – nach Garmisch,
ohne vorläufig ein weiteres Engagement anzunehmen. Ihm ist bewußt
geworden, was ihm noch fehlt.
VI
Draußen geht die Sonne unter. Hier in dem hohen, düsteren
Saal des sizilianischen Schlosses ist es angenehm kühl. Der Marchese
M. hat für diesen Nachmittag den gesamten Adel Palermos eingeladen.
In der ersten Sesselreihe hat eine bildhübsche junge Marchesa
Platz genommen, die sich ganz besonders von den Künsten des deutschen
Zauberers begeistert zeigt. Marvelli hat sie sich in stillen bereits als
Versuchsperson für seinen neuen Trick ausersehen; er weiß nicht,
daß sie erst seit kurzem verheiratet ist und daß ihr etwas
steifer Gatte zu den eifersüchtigsten Männern Siziliens gehört.
Der Herr Marchese erblaßt bereits, als Marvelli der jungen Frau liebenswürdig-scherzhaft
ihren Trauring für sein Experiment abfordert.
Marvelli bittet einen jungen Conte als Versuchsperson zu sich, drückt
ihm den Ring in die Hand und läßt ihn die Hand fest schließen.
In seinem noch etwas ungelenken Italienisch erklärt Marvelli dem Publikum,
daß nicht er, sondern die Versuchsperson jetzt zaubern und mit diesem
Ring etwas ganz Neues vorführen würde. Er bittet den Herrn, den
Trauring der Marchesa doch vorher noch einmal herumzuzeigen. Der elegante
Conte, der sich zu diesem Versuch hergegeben hat, öffnet die Hand.
Der Ring ist verschwunden!
Marvelli zeigt ein so ehrliches Erstaunen, daß der Gatte der
Marchesa bereits unruhig wird. Er wünscht, daß der Ring sofort
wieder erscheint! Marvelli beruhigt ihn: “Geduld – Geduld.” Die Versuchsperson
sei ja schon erblaßt vor Aufregung und würde sicher alles tun,
um den Ring irgendwie herbeizuholen. Noch während er spricht, streift
Marvelli an dem kleinen Zaubertischchen vorbei, das er dicht vor dem Publikum
aufgebaut hat, und nimmt mit leichter Hand ein verschnürtes Kästchen
mit sich, das er nun der tatsächlich etwas erregten Versuchsperson
überreicht.
“Eine kleine Medizin, Signore, ein beruhigendes Salz. Ich nehme es
auch immer in solchen Fällen, wenn mir etwas schief geht. Versuchen
Sie doch davon!
Marvelli sagt diese Worte so gewinnend und überzeugend, daß
der Conte sich tatsächlich daran macht, die Umschnürung zu lösen
und das Kästchen zu öffnen. Aber er findet kein beruhigendes
Salz – er findet in dem Kästchen ein zweites Kästchen, und als
er das heraushebt, noch ein drittes und ein viertes. Auf dem Boden des
vierten aber liegt die Hülle eines kleinen, gelben Luftballons.
Eine atemlose Spannung liegt über der Gesellschaft, als der Conte
jetzt auf Wunsch Marvellis den Luftballon aufbläst und alle deutlich
in dem immer größer werdenden Ballon einen kleinen Gegenstand
erkennen. Marvelli bittet den Conte, zu der jungen Marchesa zu gehen; die
Dame möchte doch mit ihrer Zigarette den Ballon berühren. So
geschieht es – gibt einen Knall, und ein Ring klirrt vor der Marchesa auf
den Boden. Sie hebt ihn auf, und an der Gravierung an der Innenseite erkennt
sie, daß es tatsächlich ihr Ring ist. Brausender Beifall, während
der Gatte aufatmet. In der Nacht wird ein anonymer Brief ins Hotel gebracht,
in dem man ihm den Rat gibt, schleunigst aus Palermo zu verschwinden! Dafür
wird er auf der Rückreise in Rom aufgefordert, eine Privatvorstellung
am Königshof zu geben. Ein Gastspiel in Venedig beschließt diese
erste italienische Tournee, auf der er sich bei den Italienern den Titel
eines Paganini der Zauberkunst erwirbt. Sein nächstes Ziel heißt
Berlin. Als die weithin bekannte Konzertdirektion Adler in Berlin den Brief
eines Zauberkünstlers namens Marvelli bekam, der von ihnen den Beethoven-Saal
für zehn Abende mieten wollte, glaubten die Herren zunächst,
das Schreiben eines Irren vor sich zu haben. Der Beethoven-Saal, in dem
die größten Pianisten, Geiger, Sänger und Dirigenten Deutschlands
und Europas ihre Abende gaben, und ein Artist, der den Leuten da etwas
vorzaubern wollte – das ließ sich ja nun wirklich nicht miteinander
vereinbaren! Eine Art Varietékünstler an dieser Stätte
musikalischer Tradition!
Wie für so viele Künstler und Artisten war Berlin auch für
ihn zu dem entscheidenden Prüfstein und zu der Stätte des Durchbruchs
geworden. Von jetzt an bemühten sich die großen Agenturen um
ihm: der Weg zu Bühnengastspielen in Stockholm Paris, Madrid und Wien
war frei! In der Kufsteiner Straße schlug Marvelli sein neues Quartier
auf: hier richtete er auch sein Laboratorium ein, das nach wie vor niemand
betreten durfte. Und wie die großen Virtuosen des Klaviers oder der
Geige jeden Tag ihre Übungsstunden absolvieren müssen, so arbeitete
auch Marvelli jede Nacht bis gegen drei oder vier Uhr. Als in München
unter brausendem Beifall die von der Jury auserwählten zehn besten
Zauberer der Welt zu Beginn der Festvorstellung auf der Bühne erschienen,
wurde als Nummer zwei Alfredo Marvelli vorgestellt. Es war den meisten
Teilnehmern dieses Treffens klar, daß Nummer zwei alle Chancen hatte,
bereits im nächsten Jahr Nummer eins zu werden!
Für den gefeierten Wiener Ehrengast bei dieser Vorstellung, den
in allen Ländern der Erde bekannten und verehrten Altmeister der klassischen
Zauberkunst, Ottokar Fischer, hatte Marvelli eine besondere Überraschung
vorbereitet.
Von der Bühne herab überreicht er dem in der ersten Reihe
sitzenden alten Herrn eine elegante Briefmappe. Als Fischer sie öffnet,
findet er lediglich ein weißes Blatt, auf dem ein großer Kreis
eingezeichnet ist; er wird gebeten, in diesen Kreis seinen Namen zu setzen.
Marvelli nimmt die Mappe wieder zurück und legt sie auf sein Zaubertischchen
- dann holt er ein Kartenspiel hervor. Er läßt den Meister verdeckt
eine Karte ziehen, bittet ihn, die Karte seinem Nachbarn zu zeigen und
dann fest an seine Stirn zu pressen. Lächelnd und willig fügt
sich der alte Zauberer den Anordnungen seines jungen Kollegen.
Bei Marvellis triumphalem Gastspiel in Wien treffen die beiden Männer einander wieder; Fischer ist jeden Abend in der Vorstellung. Er beobachtet diesen jungen Kollegen ungewöhnlich scharf und kommt nun zu einem Entschluß, der für Marvelli von größter Tragweite sein soll. Ottokar Fischer ist es, der das streng geheim gehaltene Erbe des großen Wiener Zauberkünstlers Hofzinser verwaltet. Noch nie ist es jemandem gelungen, die großen Tricks dieses gefeierten genialen Zauberers nachzuahmen. Das Geheimnis ist nur mündlich durch einen Schüler Hofzinsers an Fischer weitergegeben worden. Und der Altmeister, der längst von der Bühne abgetreten ist, beschließt, dieses großartige Erbe an Marvelli zu übergeben. Und so geschieht es. Nächtelang sitzen der alte und der junge Zauberer in dem altmodisch eingerichteten Salon Fischers beieinander. Das sind große Stunden für Marvelli – das, was ihm hier gezeigt wird, ist einzigartig. Und zugleich tritt er an als Erbe Hofzinsers in die große, alte Tradition der Zauberer und Magier ein. Jetzt wird er zum Herrn über den “schwebenden Stab”, über den großen Kartensprudel und über das Zauberwasser, das er innerhalb einer Minute in einer locker gedrehten Tüte vor aller Augen verschwinden läßt. Wie immer, ehe Marvelli neue Tricks vorführt, geht eine lange Zeit stiller und zäher Arbeit voraus. Sie wird nur unterbrochen durch die große Südamerikatournee, die er 1936 unternimmt. Auf der Monte Rosa fährt er hinunter zur Amazonasmündung und nach Rio de Janeiro.
VII
Als die schneeweiße Monte Rose angesichts des urwaldbedeckten
Zuckerhutgipfels in die weltberühmte schöne Bucht von Rio de
Janeiro einfährt, ist in der Stadt schon längst bekannt, daß
ein deutscher Zauberer an Bord ist. Motorboote brausen heran – Journalisten
klettern über das Fallreep hinauf, und Marvelli erlebt zum ersten
Male in einem fremden Erdteil einen ganz großen Empfang durch die
Presse.
Vier Stunden später findet er schon sein Bild in der Zeitung!
Mit brasilianischer Gastfreundlichkeit zeigt man ihm die Copacabana, den
ältesten Badestrand der Erde. Die berühmte Allee aus weißstämmigen
Königspalmen im Botanischen Garten, das faszinierende Nachtleben der
Millionenstadt. Im Deutschen Club, der Praia Flamengo, gibt er dann mehrere,
bis auf den letzten Platz ausverkaufte Gastspiele. Aber so begeistert man
ihn in Rio, in Bahia und in Para-Belem umjubelte – hier in Südamerika
gab Marvelli die einzige Vorstellung seiner gesamten letzten Tourneen,
die ihm keinen Beifall einbrachte. Und zwar vor wilden Indianern im Amazonasgebiet!
Als er begann, den Indianerkindern blinkende Geldstücke aus Mund,
Nasen und Ohren zu ziehen wurde die Haltung der Dorfbevölkerung so
drohend, daß sich Marvelli mit dem schweizer Gummihändler, der
ihn begleitet hatte, schleunigst entfernen mußte. Dafür war
sein Kunststück, bei einem Urwaldspaziergang seinen Begleitern Zigaretten
von einer der vielen herabhängenden Lianen zu pflücken, ein großer
Erfolg. Die einfachen Gummisammler sperrten Mund und Nase auf – sie schlugen
mit ihren Buschmessern reihenweise die Lianen herunter in der Hoffnung,
auf diese Weise auch Zigaretten zu ernten. Es war eine von Marvellis vielen
Eulenspiegeleien, von denen seine Freunde immer wieder zu berichten wissen.
Nach Deutschland zurückgekehrt, gewann er auf dem nächsten Weltkongreß
der Zauberer zum ersten mal den Magischen Ring, die größte Auszeichnung,
die auf diesen Kongressen vergeben werden kann. Im Jahr darauf in Frankfurt
am Main gewann Marvelli ihn zum zweitenmal, vor vierhundert der besten
Zauberer – ein einzig dastehender Fall in der Geschichte der Zauberei.
Er hatte um 1938 all das erreicht, was er sich in seinen kühnsten
Träumen erhofft hatte: volle Säle, jubelnden Beifall, Auslandsreisen,
Spitzengagen, von denen er, der einst Geigenvirtuose werden wollte, sich
nun eine kostbare Stradivari kaufen konnte. Noch mehr: die neidlose Anerkennung
der Fachleute und Kollegen und das immer wieder berauschende Gefühl
einer vollendeten Sicherheit, selbst bei seinen gewagtesten Tricks!
VIII
“Du ... Fokusnik vormachen! Vorzaubern!” Zum Glück hatte Marvelli
seine Kartenspiele dabei, und wenn er die Zierfächer vorführte
oder den großen Kartensprudel, dann war auf einmal eine ganz andere
Stimmung in dem kahlen Kommandanturraum. Er mußte Vorstellungen in
den Kasernen geben, und schließlich brachte er auf diese Weise eines
der größten Zauberkunststücke seines Lebens zustande: sich
einen Passierschein in die Freiheit – zunächst nach Dresden und dann
nach Berlin – zu “erzaubern”! Es war für Marvelli wie ein Wunder,
als er in Berlin auf dem Bahnhof Friedrichstraße aus dem Zug stieg.
Stundenlang wanderte er durch die Trümmer nach der Kufsteiner Straße.
Das Haus, in dem er gewohnt hatte, stand noch, kaum versehrt! Und seine
Wohnung, zwar zunächst beschlagnahmt, war erhalten – vor allem das
für ihn so unschätzbar wichtige Laboratorium. Trotz all der tausend
Nöte und Schwierigkeiten des Nachkriegsalltags im Berlin von 1945
zögerte Marvelli keinen Tag, an den Aufbau einer neuen Karriere zu
gehen. Jetzt kam ihm zugute, daß er, im Gegensatz zu vielen seiner
Kollegen, keine großen Bühnen oder umfangreiche Zauberapparaturen
gebrauchte. In jedem kleinen Saal, in jeder Schulaula konnte er auftreten;
sein notwendiges Handwerkszeug hatte er schnell wieder beisammen. Am schwierigsten
war es für den großen Zauberer, sich einen neuen Frack zu beschaffen
– es dauerte viele Monate, bis er endlich wieder im altgewohnten “Kostüm”
erscheinen konnte. Jede freie Stunde verwandte Marvelli für die Arbeit
in seinem Laboratorium. Er wußte genau: neue, große Erfolge
waren auf die Dauer nur durch neue, große Tricks zu gewinnen. Wieder
einmal baute er sein Programm um, fügte neue Nummern ein und probierte
unablässig an einem großen Trick, der zum unübertroffenen
Zauberkunststück seines Lebens werden sollte. Es hatte lange gedauert,
Unsummen gekostet, bis allein die ersten Experimente geglückt waren.
Inzwischen meldete sich auch wieder die weite Welt außerhalb Deutschlands.
Bereits 1946 brachte die Fachzeitschrift der amerikanischen Zauberer “The
Sphinx” in New York einen ausführlichen Bericht über Marvelli.
Der Kulturfilm, der 1947 mit Marvelli gedreht wurde und seine schönsten
und schwierigsten Tricks zeigte, löste in Paris, London und New York
helle Begeisterung aus. – Die ersten Einladungen aus dem Ausland kamen.
Doch er ließ sich von seiner Arbeit zunächst nicht ablenken.
Eines Tages lud er eine Reihe von Berliner Journalisten in seine Wohnung
ein; sie sollten den großen Seiltrick zuerst erleben. So mancher
Berliner Pressemann wird sich noch an den Sonntagnachmittag in Marvellis
Wohnung in der Kufsteiner Straße erinnern. Einer von ihnen berichtete
damals: “Nachdem uns Marvelli in seinem Wohnzimmer eine kleine Privatvorstellung
gegeben hatte, dicht vor unseren Augen, lud er uns in sein Laboratorium
ein – seine technische ,Zauberküche‘. Hier blitzte und blinkte es
von seltsamen Instrumenten; es gab eine Fülle von Spezialapparaten,
Schaltern, Lampen und Hebeln, Koffern aus gehämmertem Leichtmetall,
Aufnahmeapparaten ... Das alles bewies uns, mit welchem wissenschaftlichen
Ernst dieser Täuschungskünstler arbeitete ... Und jetzt klingt
Musik auf; magische Klänge, faszinierend in ihrer Monotonie und Dumpfheit.
,Ich möchte Ihnen gern mein neuestes Zauberkunststück vorführen:
das Schlangenseil.‘
Auf einem kleinen Tischchen, locker hingeworfen, liegt ein naturfarbenes
Stück Strick, ein Seil. Und wäre es nicht stillos für diese
Umgebung, so könnte man es als ein Stück Wäscheleine bezeichnen.
Wir lassen das Seil durch unsere Hände gleiten und stellen fest: ein
Strick wie tausend andere, ohne jegliche Spur von Besonderheit.
Marvelli geht auf das Tischchen zu. Sein Blick wird zwingend, bezwingend!
Und nun – er hebt die Hände über diesem Stückchen Tau, das
locker daliegt auf einer kleinen, mit schwarzem Samt bedeckten Platte.
Das Seil beginnt zu leben: es zuckt – bewegt sich. Die Windungen lösen
sich. Schlangenhaft beginnt es zu kriechen. Das Seil erhebt sich, bewegt
sich ruckartig wie ein Schlangenkopf. Steil richtet es sich auf. Die ganze
Schlange – wie sollte man es sonst nennen? – wiegt sich zum Klang der dumpfen
Musik im Tanz unheimlich echt und eindrucksvoll!
Marvelli läßt die Hände sinken, das Seil rollt sich
gehorsam wieder zusammen. Die Musik verklingt ...
Wir sitzen unbeweglich. Aber während wir von dem Erlebnis noch
ganz befangen sind, zerreißt Marvelli selbst den Zauber: er reicht
uns die kleine, lose Tischplatte mit der erstarrten Schlange hinüber
– und was wir jetzt sehen und greifen ist nichts als jenes tote Stückchen
Seil ...”
In den Kursälen der großen deutschen Badeorte hatte Marvellis
erste Karriere begonnen – hier begann auch seine zweite Karriere. Gastspiele
in fast allen größeren Städten Westdeutschlands schlossen
sich unmittelbar an. Das unerhört dichte, faszinierende Programm,
begleitet von dem liebenswürdig-weltmännischen und doch so genau
auf den Trick und auf das Publikum berechnete Geplauder Marvellis, die
Musik, die den leicht und vollendet hingespielten Täuschungskünsten
die letzte Eleganz gab, und als Gipfelpunkt der große Seiltrick –
das alles begeisterte von neuem Zehntausende von Zuschauern. Kollegen urteilten,
daß Marvelli überhaupt erst jetzt seine reifste und höchste
Form gefunden habe.
Um eine solche Form aber zu gewinnen und – zu erhalten, muß jeder
Artist persönliche Opfer bringen!
Und da traf er auf einmal auf eine weitgeschwungene Bucht, deren schöner,
reiner Sandstrand sich bis zum nächsten Kap hinüberdehnte, er
fand ein kleines, spanisches Städtchen voller Romantik und vor allem
hier, angesichts der rostroten Berge und des indigoblauen südlichen
Meeres, eine wundervolle Einsamkeit. Anscheinend hatte noch kein Reisender
die Bucht von Benidorm entdeckt.
Über eine Woche lang schlug Marvelli sein Campingzelt unter Palmen
am Strand auf. Hier gab es keinen nordischen Winter, die Sonne wärmte
noch, wie bei uns im September. Es gibt Landschaften, die uns auf den ersten
Blick tief vertraut sind und die man sich zur Heimat wünscht. Dieses
Erlebnis hatte Marvelli zum ersten Mal hier in der Bucht von Benidorm.
Nur mit Mühe riß er sich los, um seinen Auftrittstermin in Marokko
wahrzunehmen. Und er versprach den Spaniern, die da täglich seinen
Wohnwagen bewunderten und ihn besonders herzlich aufgenommen und eingeladen
hatten, auf jeden Fall auf der Rückreise wieder vorbeizukommen. Für
ein paar Tage nur!
IX
Zauber-Soiree im maurischen Palast des Sultans von Marrakesch! Die
hohen Würdenträger waren geladen und kauerten in ihren weißen
Burnussen auf kostbaren Kissen neben dem Sultan. Hinter einer mit reichen
Schnitzereien bedeckten Gitterwand, an einer Längsseite des Saales,
warteten die tiefverschleierten Haremsdamen Seiner Hoheit voll Neugier
auf den Anfang der Vorstellung. Der Saal mit seinen weitbogigen Fensteröffnungen,
der kostbaren Täfelung der Wände, den leuchtenden Teppichen hatte
etwas von der Atmosphäre aus Tausendundeiner Nacht. Marvelli selbst
erzählt, daß ihm das Zaubern noch nie so viel Spaß gemacht
habe und nie so “magisch” vorgekommen sei wie hier in dieser märchenhaft
anmutenden Umgebung.
Äußerlich völlig unbewegt, mit der Ruhe und Würde,
die Marvelli schon in Casablanca und später bei den Araberscheichs
im Zelt erlebt hatte, verfolgten der Sultan und seine Gäste die Darbietungen.
Erst beim schwebenden Stab hörte man ein leises Murmeln der Bewunderung.
Angesichts der großen Kartenfächer rauschte der erste Beifall
auf! Und dann, als Marvelli das lebende Seil vorführte, war der Bann
gebrochen; immer wieder mußte er diesen Trick zeigen. Jetzt wurde
auch vom Sultan der französische Dolmetscher für zahllose Fragen
eingeschaltet. Ein Hofmarschall mit weißem Fez und in goldbestickter
Uniform überreichte anschließend in einer kostbaren Lederkassette
dem Magier aus dem Norden ein Geschenk des Sultans, das der märchenhaften
Umgebung entsprach. Marrakesch war eine neue Verlockung für Marvelli!
Warum sollte er nicht mit seinen einzigartigen Tricks jetzt einmal die
Welt des Orients bereisen, über Kairo und Bagdad, nach Teheran und
hinunter nach Indien fahren? Hieß das nicht neues Abenteuer, neues
Publikum, eine neue Möglichkeit des Zauberns und Bezauberns?
Aber da drängten schon wieder die Termine für Mannheim, Hamburg,
München und für zahlreiche Kurorte Deutschlands. Und da war vor
allem die Einladung der neugewonnenen spanischen Freunde nach Benidorm
und seiner wundervollen, weiten Bucht, deren Anblick ihn so beglückt
und so seltsam heimatlich berührt hatte ...
So kehrte er denn an der Schwelle von Tausendundeiner Nacht um und
fuhr nach Spanien zurück. Knappe 14 Tage nach dem Auftritt im Sultanspalast
von Marrakesch hatte er sein Campingzelt wieder unter den Palmen von Benidorm
aufgeschlagen.
ENDE
rechtlicher Hinweis:
Dieser Artikel wurde zu Lebzeiten Fredo Marvellis als Serie
in der "Berliner Zeitung" und der "Hannoverschen Zeitung" abgedruckt. Der
Inhaber der Urheberrechte liess sich trotz Nachforschungen nicht mehr ermitteln.
Wir gehen bis auf Widerruf davon aus, dass die Veröffentlichung im
Sinne des Autors
ist und bedanken uns auf diesem Wege!